Kriegsmüdigkeit in Russland: Zwischen Rausch und Apathie

Ohne Krieg ist Putins fünfte Amtszeit undenkbar. Die russische Gesellschaft ist militarisiert – und gleichgültig zugleich.

Ein ausgestellter Pannzer.

Ein nach russischen Angaben in der Ukraine erbeuteter deutscher Leopard-2-Panzer bei einer Ausstellung in Moskau Ende April Foto: Ulf Mauder/dpa

Plötzlich steht der Krieg mitten in Moskau. Er ist hierher gekarrt worden, damit er unter strahlendem Sonnenschein bejubelt werden kann, verewigt auf Familienbildern. „Oh“, „Wow“, „Alles unsers“, der Marder aus Deutschland, der Abrams aus den USA, der finnische Sisu Pasi. „Wo ist der Leopard? Ich will zum Leoparden“, sagen die meisten an diesem Tag und machen vom erbeuteten deutschen Panzer hier, im Siegespark am westlichen Zentrumsrand der Stadt, schnell noch ein Bild aus der Ferne. „Die Geschichte wiederholt sich“, steht auf einem Plakat, auf einem anderen: „Unser Sieg ist unausweichlich.“

Es ist das simple wie unheilvolle Rezept, aus dem die russische Propaganda gemacht ist, aus dem die russische Politik gemacht ist. Die Machthaber setzen auf das Narrativ, in der Ukraine werde der Kampf gegen den Faschismus fortgesetzt, den ihre Vorväter einst begonnen hatten. Über die Perversion der Verdrehungen macht sich hier, bei der „Trophäenschau“, die das russische Verteidigungsministerium unter freiem Himmel präsentiert, wohl niemand Gedanken.

Die roten Fahnen, auf denen in Großbuchstaben „Pobeda“ geschrieben steht, Sieg, wehen im Wind. Sie umflattern den Rausch des Krieges, der so verspielt daherkommt, dass es für die Massen an Männern, Frauen, Kindern zwischen den Absperrungen um das Kriegsgerät herum ein Leichtes ist, auszublenden, ja zu vergessen, dass Krieg nicht Romantik ist, sondern Trauer und Schmerz. Solche Gefühle lassen sie nicht zu, sie würden wehtun, sie würden womöglich zu Fragen führen, deren Antworten unangenehm sind.

Fragen, Zweifel, Widerspruch, das ist nicht ihres. Für sie ist Krieg Stolz, identitätsstiftend, weil er sie sich groß fühlen lässt, in einem Leben, in dem sie ständig von Autoritäten gedemütigt werden und sich machtlos fühlen, in dem sie frustriert, verbittert und unsicher sind, in dem Angst das bestimmende Element ist. Großfühlen sei wichtig, vermittelt ihnen das Regime, wie ihnen ein anderes Regime, das sowjetische, Ähnliches vermittelt hatte, als sie noch Kinder waren. Wie sie ihren Kindern nun Ähnliches vermitteln. Sie haben keinen Einfluss auf Entscheidungen in der Politik, sie sagen gern, sie interessierten sich gar nicht erst für Politik. Die Politik aber interessiert sich für sie und formt aus ihnen eine unterwürfige, indifferente Masse, die die Entscheidungen der Politik mittragen soll.

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So tragen sie mit, fotografieren die abgebrannten Panzer, das durchlöcherte Metall. Auf jedem Fahrzeug klebt eine Flagge, die Umstehenden fragen zur Not die patrouillierenden Soldaten, aus welchen Ländern „das beschädigte Werk“ komme. „England?“ „Nein, Australien“, antwortet der Soldat und rattert Maße und Schlagkraft herunter. Mehr als 30 in der Ukraine „erbeutete Exemplare“ aus den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, der Türkei stehen, mit einer Erklärtafel versehen, hinter Metallzäunen. „Eine große Kollektion“, jubelt die Moderatorin im Staatsfernsehen. „Schau“, sagt ein Vater zu seinem Sohn, „so einen hast du in Klein zu Hause“, und zeigt auf einen Panzer.

Ein anderes Kind läuft zu seiner Mutter. „Mama, ich habe einen Panzer aus der Ukraine gesehen. Gib mir mal mein Gewehr, ich schieße ihn ab“. Er reißt ihr die Plastikwaffe aus der Hand. „Unser kleiner Patriot“, sagt die Großmutter daneben und lächelt. Es ist ein bizarres Schauspiel im Frühlingswind, es sind Kriegsspiele der Erwachsenen, aus denen sich die Kinder von heute auch später im Leben kaum werden befreien können. Das lässt sich in wissenschaftlichen Untersuchungen über andere Kriege nachlesen. „Russland, das ist ein Land der Sieger“, steht seit Monaten auf Plakatwänden quer durch Moskau. Der „Sieg“ ist allgegenwärtig, nur weiß niemand im Land, wie ein Sieg aussähe. Also führt Russland weiter Krieg, das ist der eigentliche Sieg des Regimes.

Viele profitieren vom Krieg

Am 7. Mai beginnt Putin seine fünfte Amtszeit als Präsident. Ohne den Krieg in der Ukraine ist sie nicht denkbar, ist er als Präsident nicht denkbar. Das gesamte System, die Politik, die Wirtschaft, ist darauf ausgerichtet. Die menschenverachtende Haltung des Regimes, die keine Vielfalt duldet und vollkommene Loyalität jedes Einzelnen einfordert, ist in Gesetze gegossen. Jegliche öffentlich vorgetragene Kritik am Staat endet in einem Prozess und damit in Bestrafung, manchmal mit Bußgeld, manchmal mit 25 Jahren Haft. Der aktive Teil der Gesellschaft ist ins Exil gedrängt worden, andere sitzen in U-Haft und in Strafkolonien ein, manche verzweifeln und ziehen sich in die innere Emigration zurück.

Putin hat derweil acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Militärausgaben vorgesehen, selbst der Internationale Währungsfonds hat die Wachstums­prognose für Russland auf 3,2 Prozent für das laufende Jahr korrigiert. „Wir kommen viel besser durch die schwierigen Zeiten als der Westen, der uns bestrafen will“, sagt Russlands Präsident immer wieder. Regionen, die in den vergangenen Jahren von der Zentralregierung finanziell abhängig waren, zahlen nun teils drei Mal mehr Steuern.

Auch wenn die Wachstumszahlen verzerrend sind, profitieren viele Menschen im Land vom Krieg. Materiell, aber auch ideell. Plötzlich ist der Sohn, den alle für einen Nichtsnutz und Verbrecher hielten, ein Held. Ein ganzes Dorf kommt zur Beerdigung und ehrt die Eltern. Nicht wenige können sich auf einmal ein Leben leisten, von dem sie lange nur träumten: ein Auto, eine Urlaubsreise, eine Hypothek für eine Wohnung in der Stadt. Wie blutdurchtränkt das Geld ist, fragen sie nicht. Es ist ihr Geld und es ist ihr unerschütterlicher Glaube, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Militärischer Drill schon im Kindesalter

Der tote Sohn, Mann, Vater – so vermittelt ihnen das Regime, unterstützt vom rund um die Uhr laufenden Fernseher – sei als Held gestorben, also „sinnvoll“. Zudem habe er seine „Pflicht als Mann“ erfüllt. Die traditionellen Geschlechterrollen sind tief verankert in der Gesellschaft, die sowjetische Gleichberechtigung auf dem Papier hin oder her. Chauvinistische Einstellungen dominieren das Verständnis von Männern wie Frauen. Die Geburtenrate sinkt derweil. Um die schrumpfende russische Bevölkerung wieder „nachhaltig zu steigern“, fordert die Politik Frauen auf, mehr Kinder zu gebären. Am besten acht pro Familie. Anfangen sollen sie gleich nach der Schule, studieren könnten die Frauen auch später. Für zehn geborene Kinder verleiht der Staat schon jetzt eine „Heldin Mutter“-Medaille, wie zu Sowjetzeiten.

Die Zukunftsperspektive dieser Kinder: Militarismus. „Vorschulkompanien“ schon im Kindergarten, „Gespräche über Wichtiges“ ab der ersten Klasse, wo die Schü­le­r*in­nen lernen, dass es nichts Wichtigeres im Leben gebe als für den Staat zu sterben, „Militärische Vorbereitung“ ab der 10. Klasse, bei der sie bereits in der Schule eine Art Ausbildung zum Soldaten durchlaufen. In den Ferien locken Militärcamps, Ausbilder sind nicht selten Soldaten, die vor Kurzem erst aus dem Krieg in der Ukraine zurückgekehrt sind.

Das Groteske dabei: Der Krieg spielt im Alltag keine Rolle. Er ist für viele sehr weit weg, territorial und auch im Kopf. Er darf offiziell nicht einmal als solcher bezeichnet werden. „Militärische Spezialoperation“ hatte ihn Putin genannt, als er seine Armee in der Ukraine einmarschieren ließ. „SWO“ sagen die Russen als Abkürzung dazu, es klingt so beiläufig, bevor es weitergeht in den Stau, zur Gartenarbeit, zu den Hausaufgaben der Kinder.

„Welche Ereignisse, über die die Medien berichten, haben in den vergangenen Tagen Ihre Aufmerksamkeit erregt?“, fragte kürzlich das staatliche Umfrageinstitut FOM und legte den 1.500 Befragten aus 53 russischen Regionen die Antworten vor: Flut am Ural, „SWO“, Terroranschlag in der Crocus City Hall, „Ereignisse im Nahen Osten“, Anderes. Knapp 50 Prozent interessierten sich für keinen dieser Punkte. Eine solche Apathie lässt die Menschen bereitwillig die Narrative des Staates übernehmen, macht sie empathielos für jegliches Leid und damit zu – wenn auch passiven – Un­ter­stütz­e­r*in­nen einer Gewaltherrschaft, von der Putin nicht ablässt. Weil es die Herrschaft ist, mit der er sich an der Macht hält.

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